Ein Staat im Staat? Das deutsche Kirchenrecht als "Paralleluniversum"
Wer sich über die Schiedsgerichte ärgert, die nicht nur in
Abkommen wie TTIP vorgesehen sind, sondern schon jetzt abseits jeder
staatlichen Gerichtsbarkeit ihr Unwesen treiben, kann praktisch vor der eigenen
Haustür ganz ähnliche Strukturen finden: Auf der Grundlage des Art. 140 GG, der den Kirchen ein
Selbstbestimmungsrecht zusichert, haben sowohl die evangelische als auch die
katholische Kirche ihre eigene Gerichtsbarkeit installiert. Ihre Zuständigkeit
beschränkt sich auf innerkirchliche Angelegenheiten und setzt dabei zum Teil
das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) außer Kraft.
Hinzu kommt, dass die christlichen Kirchen (und weitere
Religionsgemeinschaften) als Körperschaften des öffentlichen Rechts gelten und
damit Dienstherrenfähigkeit haben. Das bedeutet, dass sie das Recht haben,
außerhalb des allgemeinen Arbeitsrechts öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse
ins Leben zu rufen.
Das tun Kirchengerichte
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) orientiert sich
bei der Aufteilung ihrer Gerichtsbarkeit am staatlichen Recht und unterscheidet
in Gerichte, die für Verwaltungs-, Verfassungs-, Disziplinar- und
Mitarbeitervertretungsangelegenheiten sowie Lehrbeanstandungen zuständig sind.
Die römisch-katholische Kirche nennt ihre Gerichte
Konsistorien oder Offizialate und hält sich hinsichtlich der Gerichtsverfahren
und –organisation an den Kodex des kanonischen Rechts (Codex Iuris Canonici),
das Gesetzbuch der katholischen Kirche. Derzeit gilt die Fassung von 1983 aus
der Zeit von Papst Johannes Paul II.
Die EKD geht mit den durch ihre kirchengerichtlichen Instanzen
getroffenen Entscheidungen vergleichsweise offen um: Auf einer eigenen Webseite
wird anonymisiert dokumentiert, welche Rechtsfälle in welchen Jahren
entschieden worden sind. Die einzelnen Fälle können einschließlich des Urteils
nachgelesen werden. Darunter befinden sich auch Prozesse wegen sexuellen
Missbrauchs von Pfarrern an Jugendlichen, aber auch an Mitarbeiterinnen, die von
ihnen beruflich abhängig waren.
Auch die Deutsche Bischofskonferenz listet auf ihrer
Webseite die von ihrer Gerichtsbarkeit geführten Verfahren auf. Dort finden
sich schlagwortartig überwiegend Entscheidungen aus den Bereichen
Mitarbeitervertretungs- und Disziplinarrecht. Eine am 30. November 2015 ausgestrahlte
Dokumentation der ARD lässt jedoch die Vermutung zu, dass es mit einer
umfassenden Offenheit hier nicht weit her ist: Es geht dort u. a. um den Fall
einer 14jährigen Schülerin, die von einem Pfarrer, der auch in ihrer Familie
ein und aus ging, missbraucht wurde. Das Fatale an der Geschichte: Dieser
Pfarrer war innerhalb der Kirche seit Jahrzehnten wegen des mehr als
hundertfachen Kindesmissbrauchs bekannt. Die Kirche folgte immer dem Prinzip „versetzen
statt verhaften“ und schob bei jedem Bekanntwerden eines Missbrauchs den
Pfarrer wie einen Wanderpokal von einer Pfarrstelle zur nächsten. Doch erst
2010 öffneten sich unzählige seiner ehemaligen Schüler des katholischen Canisius-Kollegs
und wandten sich an die Öffentlichkeit. Die Taten galten allerdings
strafrechtlich als verjährt, der Pastor kam unbehelligt davon. Aber zum selben
Zeitpunkt begann die Kirche mit eigenen Ermittlungen – ohne „Publikum“ und ohne
ein bekanntes Ergebnis.
Ein pädophiler Pfarrer genießt seinen ruhigen Lebensabend
Als nun dieser jüngste Fall 2010 dem Bistum Hildesheim
zugetragen wurde, befragte es das missbrauchte Mädchen sehr detailliert über
mehrere Stunden hinweg, ohne eine ihm vertraute Person hinzuzuziehen. Der
Vorfall, der damals bereits vier Jahre zurücklag, war dem Bistum ein nur
halbstündiges Gespräch mit dem Beschuldigten wert, der Vorgang wurde im
Geheimen behandelt. Nie wurden die Erziehungsberechtigten zum Gespräch gebeten
oder mindestens schriftlich informiert; bis heute wurden sie von der
katholischen Kirche noch nicht einmal darüber informiert, dass es überhaupt
einen Prozess beim Strafgericht der katholischen Kirche in Berlin gab geschweige denn, welchen Ausgang er
genommen hat. Erst durch die Recherchen der ARD haben sie nun vom Prozess erfahren.
Nach der Befragung durch das Bistum begann die Vierzehnjährige, sich auffällig
zu verhalten und selbst zu verletzen. Erst durch den Aufenthalt in einer
psychiatrischen Einrichtung erfuhren die Erziehungsberechtigten, dass sich der
Pastor, der ihr Freund war, an der damals Elfjährigen vergangen hatte. Nachdem
sie darauf bestanden hatten, hat die Kirche die Ermittlungen an die
Staatsanwaltschaft übergeben. Sie hat jedoch nicht die Pflicht, sich an
staatliche Strafverfolgungsbehörden zu wenden, wenn ihr eine Straftat eines
Kirchenbediensteten bekannt wird.
Eine Form der Prozessbeeinflussung: Das Verschweigen von wichtigen Sachverhalten
Die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellten
Unterlagen enthielten jedoch keinen Hinweis auf die älteren Missbrauchsfälle
oder die im Zusammenhang mit diesem Fall angestellten eigenen zehnmonatigen
geheimen Ermittlungen. Daher musste die Staatsanwaltschaft davon ausgehen, dass
es sich bei dem Pfarrer um einen Ersttäter gehandelt hat. Entsprechend milde
fiel ihr Urteil aus: Die Ermittlungen wurden 2011 eingestellt, der Pfarrer
erhielt lediglich eine Geldauflage. Die Staatsanwaltschaft sah hier nur ein „geringes
öffentliches Interesse“, da sie keine Kenntnis davon hatte, dass der
Beschuldigte an einem der größten Missbrauchsskandale der katholischen Kirche
beteiligt gewesen war.
Die Kirche hat den Pfarrer in ihrem eigenen Prozess zu einer
Strafzahlung von 4.000,-- € an den Missbrauchsfond des Erzbistums Berlin
verurteilt, die er in Raten abbezahlt. Das missbrauchte Mädchen hat nie ein
Schmerzensgeld oder auch nur eine Entschuldigung erhalten.
Das ist der aktuelle Stand
Die kirchengerichtliche Beschäftigung mit Missbrauchsfällen
ist noch Neuland. Bisher haben sich diese Einrichtungen schwerpunktmäßig mit ehe-,
arbeits- oder disziplinarrechtlichen Fällen beschäftigen müssen. Doch die
Aufdeckung von unzähligen Missbrauchsfällen im Jahr 2010 hat die Arbeit
insbesondere der katholischen Kirchengerichte verändert. Das Kirchengericht
Köln, das größte der katholischen Kirche in Deutschland, hat seit 2010 bereits
über sieben solcher Fälle beraten. Es wurden Täter und Opfer befragt und
interne Ermittlungen durchgeführt. Am Ende haben Pastoren über Pastoren
entscheiden. Nur der Bischof hat Zugriff auf die Ermittlungsunterlagen,
staatlichen Behörden ist der Zugang verwehrt.
Die Trennung von Staat und Kirche hat an dieser Stelle eine
Dimension angenommen, die die Verfasser des Grundgesetzes sicher nicht im Sinn
hatten. Hier hat sich ein paralleles Gerichtswesen entwickelt, das
augenscheinlich auch nicht davor zurückschreckt, offenkundige Straftatbestände
aus der Öffentlichkeit und der ordentlichen Strafverfolgung herauszuhalten, um den Ruf der Kirche "sauber" zu halten.
Es ist außerdem erschütternd, dass die katholische Kirche im geschilderten Fall wenig Mühe darauf verwendet hat, sich dem pädophilen Pfarrer
kirchenrechtlich zuzuwenden. Im Rahmen von Eheprozessen geht sie da weniger
zimperlich vor: Diejenigen, die eine Auflösung ihrer kirchlich geschlossenen
Ehe möchten, werden intimsten Fragen ausgesetzt. Das gilt auch für die
vorgeladenen Zeugen, die die Angaben des Trennungswilligen bestätigen müssen.
Diese Befragungen ziehen sich oft über einen ganzen Tag hin. In vielen Fällen
werden auch Psychologen hinzugezogen, die die Antragsteller auf ihre
Glaubwürdigkeit überprüfen sollen. Keine Frage, dass externen Gutachter mit den speziellen
Regeln der Kirche vertraut sind und sie ebenfalls anwenden. Täten sie es nicht, würden sie nicht vom Kirchengericht beauftragt werden.
Menschen, die der Kirche näher stehen als ich, mögen solch ein Vorgehen als normal empfinden. Aus meiner Sicht wird das Recht auf eine eigene Gerichtsbarkeit jedoch dann überstrapaziert, wenn Straftaten nicht als solche behandelt, sondern wie im tiefsten Mittelalter vertuscht und unter den Teppich gekehrt werden.
Nachtrag: Wir haben beobachtet, wie es mit dem Umgang insbesondere der katholischen Kirche mit dem Thema Missbrauch von Kindern und Jugendlichen weitergegangen ist. In einem neuen Artikel schauen wir uns an, was sich in den letzten Monaten im Bistum Hildesheim getan hat.
Nachtrag: Wir haben beobachtet, wie es mit dem Umgang insbesondere der katholischen Kirche mit dem Thema Missbrauch von Kindern und Jugendlichen weitergegangen ist. In einem neuen Artikel schauen wir uns an, was sich in den letzten Monaten im Bistum Hildesheim getan hat.
Vorfälle wie diese bringen Menschen dazu sich von der Kirche abzuwenden und Auswüchse wie der neue Atheismus, wie ein Richard Dawkins ihn propagiert, sind zwangsläufig die Folge. Wichtig ist es aber sich klar zu machen, dass die Schuld bei Menschen liegt, den Menschen und ihren Organisationen, die Gott missbrauchen um eigene Interessen und Machtansprüche zu legitimieren. Wir müssen uns alle klar machen, dass so etwas nichts mit Gott zu tun hat. Besonders bei der Organisation der katholischen Kirche frage ich mich schon länger worum es da geht! Geht es darum Gott zu dienen und damit auch den Menschen zu dienen, oder geht es darum sich selbst und der eigenen Organisation zu dienen, was dann den Dienst an Gott und den Menschen ausschließt.
AntwortenLöschenLiebe Elfriede, ich gebe dir da völlig recht. Ich gehe auch davon aus, dass sich viele der Menschen, die aus der evangelischen oder katholischen Kirche austreten, von dem weltlichen Teil der Kirche, nicht aber vom Glauben abwenden. Die Erfahrung, dass sich die Kirche als Institution schäbig verhalten hat, habe ich selbst mehrfach erlebt oder beobachtet. Wenn die beiden christlichen Kirchen es nicht schaffen, sich zu modernisieren, werden ihnen voraussichtlich noch viel mehr "Schäfchen" den Rücken kehren.
LöschenVorab: Ich studiere katholische Theologie, kann also ein bisschen mitreden, wie das Kirchenrecht funktioniert.
AntwortenLöschenIch verstehe deinen Ärger und du hast die Sachverhalte aus deiner Sicht geschildert. Das ist aber nicht die einzige! Du glaubst wahrscheinlich, so wie das Grundgesetz aussieht, müsste jedes gute Recht funktionieren und dann ist alles gleich und schön. Die Kirche (besonders die katholische) legt aber einen ganz anderen Maßstab an. Deshalb kann man den CIC gar nicht mit dem Grundgesetz oder dem deutschen Recht insgesamt vergleichen! Bleiben wir mal bei deinem Beispiel des Mißbrauchsvorfalls; die Kirche hat in ihrem Strafrecht nur innerkirchliche Strafen vorgesehen. Sie kann niemanden einsperren, auch wenn uns das vielleicht gerechter erscheinen mag. Sie kann den Täter höchstens versetzen, seines Amtes entheben oder zeitweise suspendieren. Je nach Straftat kann er auch exkommuniziert werden, was für dich vielleicht keine Strafe wäre, aber im Selbstverständnis der Kirche ist dies schlimmer als eine Gefängnisstrafe, weil sie den Betroffenen vom Heil ausschließt. Du siehst, dieses System funktioniert nur, solange alle die gleichen Vorstellungen teilen.
Im Fall der Eheanullierung, die du ebenfalls genannt hast, muss man bedenken, dass eine vor Gott geschlossene Ehe unauflöslich ist. Sie kann nicht einfach geschieden werden, wie eine standesamtliche Ehe. Um aber für ungültig erklärt zu werden, müssen ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein und da braucht es eben eine Befragung um zu klären, ob dies so ist. Andernfalls sind die Partner nach Kirchenrecht immer noch verheiratet, auch wenn die staatliche Ehe längst geschieden ist, was vor allem bei einem neuen Lebensgefährten problematisch wird.
Inwieweit solche Urteile nun offen gelegt werden oder nicht, sollte meiner Meinung nach auch weiterhin den Kirchen überlassen bleiben. Hast du schon mal eine Website gefunden, auf der ein deutsches Gericht alle seine Urteile zeigt? Oder das eines anderen Staates? Ich denke, da passiert ähnlich viel Mauschelei.
Liebe Moni,
Löschenvielen Dank für deine ausführliche Rückmeldung. Ich sehe die Kirche tatsächlich aus einem anderen Blickwinkel als du, nämlich als etwas Ähnliches wie ein Staat im Staate. Und das verträgt sich nicht mit meinem Selbstverständnis von einer Rechtsprechung, der alle Bürger eines Staates und diejenigen, die sich in einem Land aufhalten, unterliegen. Die Entscheidung für einen bestimmten Beruf wie der eines katholischen Pastors macht niemanden zu einem herausgehobenen Menschen, der sich darauf verlassen kann, dass die Kirche ihre schützende Hand über ihn hält und den Teppich anhebt, um den Dreck für die Öffentlichkeit unsichtbar darunter zu kehren. Das beschriebene Mädchen wird diese Ereignisse sein Leben lang nicht vergessen, während dieser Geistliche sich bereits im Rentenalter befindet und einer Geldzahlung zugestimmt hat, weil er "seine Ruhe" haben möchte. Er hat es nie geschafft, sich für sein Fehlverhalten zu entschuldigen. Das Bistum Hildesheim hingegen hatte es zunächst nicht einmal für nötig befunden, die erziehungsberechtigten Großeltern hinzuzuziehen! Warum nicht? Als Mutter bekomme ich Schnappatmung, wenn ich so etwas erfahre und kann mich sehr gut in die Bestürzung und Verzweiflung dieser Menschen hineinfühlen. Die Kirche hat sich auch später weder um sie noch um das Mädchen gekümmert. Du hast sicher mehr Wissen zum Thema Kirchenrecht als ich, aber wenn sich solche Vorgänge theologisch rechtfertigen lassen, müssen sich die Kirchen über ihren stetigen Abfluss von Mitgliedern nicht wundern.
Du hast das Thema kirchliche Ehescheidungen ebenfalls angesprochen. Die kirchliche Sichtweise "Was Gott zusammengeführt hat, soll der Mensch nicht scheiden", setzt voraus, dass der Mensch in seinem Handeln unfehlbar ist. Das ist er nicht. Die Person, die man vor dem Traualtar zu kennen glaubte, kann sich unter dem Einfluss von Lebensereignissen ändern oder Eigenschaften an den Tag legen, die bislang verborgen geblieben sind. Ich will mir nicht vorstellen, wie sich Ehen z. B. unter der Gewalttätigkeit eines Ehepartners entwickeln könnten. Das ist aber in katholischen Ehescheidungsverfahren nicht der Punkt: Dort geht es um etwas, das "weltliche" Juristen als Inhaltsirrtum bezeichnen würden: Der Angetraute war z. B. nicht zeugungsfähig oder man selbst hat der Eheschließung unter Druck o. ä. zugestimmt. Wenn sich ein Mensch von einem anderen kirchlich trennen will, für die Trennungsgründe sogar noch Zeugen beibringen muss, die sich oft ganztägigen Verhören stellen müssen, ist bei diesem Aufwand zweifellos ein gewisser "Erfolgsdruck" da. Man muss da gar nicht viel Phantasie aufbringen, um sich auszumalen, was da im Vorfeld im Umfeld der Trennungswilligen passiert, damit der Prozess in ihrem Sinne erfolgreich ausgeht.Eine Farce, die belastend ist.
Die evangelische Kirche veröffentlicht ihre Urteile und anonymisiert die Namen der Verfahrensbeteiligten. Staatliche Gerichte tun das auch. Ob die Aufstellungen vollständig sind, hoffe ich, aber das weiß nur das Gericht selbst. Die katholische Kirche veröffentlicht nicht einmal, dass es überhaupt Verfahren gibt.
Liebe Moni, ich will dich mit meiner Entgegnung auf keinen Fall persönlich angreifen. Aber mir ist es wichtig zu zeigen, dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann, als sie dir in deinem Studium vermittelt werden.
Viele Grüße
Ina